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Adipositas: neuer Erklärungsversuch stellt Kohlenhydrate in den Fokus
Wird man zu dick, weil man zu viel futtert und sich zu wenig bewegt? Oder führt erst die Zunahme der Fettmasse zu mehr Hunger, zu Überessen und Bewegungsmangel? Die Frage ist ernst gemeint! Denn es gibt gute Gründe, die für die zweite Erklärung der Entstehung von Adipositas sprechen. Was ist dran am (relativ) neuen Erklärungsmodell (Ludwig, DS et al., 2021)?
Prof. David Ludwig und Cara Ebbeling von der Kinderklinik der Harvard Medical School entwarfen bereits vor einigen Jahren ein alternatives Erklärungsmodell für die Entstehung der Adipositas (z. B. Walsh, CO et al., 2013), ebenso wie viele andere Forscher und der amerikanische Wissenschaftsjournalist Gary Taubes in seinem Buch “Why we get fat”. Der Grund: Das alte Modell hat nicht zu wirksamen Therapien geführt. Das alte Modell besagt, dass Adipositas (= eine übermäßige Zunahme des Fettgewebes) aufgrund einer gestörten Energiebilanz entsteht. Zu viele Kalorien kommen in den Körper, zu wenige werden “ausgegeben”. Folglich müsse man nur weniger essen und/oder sich mehr bewegen, um abzunehmen. Dieser Ansatz mag gelegentlich funktionieren, aber er ist millionenfach gescheitert. Ein möglicher Grund: Das alte Modell erklärt nicht, WARUM jemand mehr isst als nötig und WARUM er sich weniger bewegt. Das alte Modell besagt auch, dass es egal ist, woher die Kalorien kommen, aus Fett, Eiweiß oder Kohlenhydraten. Im neuen Modell ist das anders! Hier stehen die Kohlenhydrate, insbesondere jene aus süßen Getränken und aus hoch verarbeiteten Produkten im Fokus der Entstehung übermäßiger Fettansammlungen. Und diese Auffassung teilen mittlerweile viele renommierte Wissenschaftler, wie anhand der illustren Autorenriege der nun im American Journal of Nutrition (online am 13.9.2021) veröffentlichten “Perspektive” erkennbar ist.
Entscheidender als das das Wieviel? ist das Was?
Die Forscher entwerfen darin anhand wissenschaftlich gut untersuchbarer Hypothesen ein Rahmenmodell, das die Erklärungskette der Adipositas quasi umkehrt: Kurz gesagt geht man hier davon aus, dass eine Ernährung mit hoher glykämischer Last zu hormonellen (Insulin, Glukagon, GIP) Reaktionen führt, die eine übermäßige Fetteinlagerung fördern. In der Folge sind postprandial weniger energieliefernde Substrate im Blut, was vom Gehirn bemerkt und mit gesteigertem Verlangen nach Nahrung und verringertem Bewegungsdrang beantwortet wird. Das Überessen und Bequemsein sind also Folge einer unangemessenen Nahrungszusammensetzung, keine Ursache. Die folgende Grafik fasst das Modell zusammen, die Zahlen beziehen sich auf Zusammenhänge, die sich in Studien überprüfen lassen.
Kritiker gewürdigt
Der aktuelle Perspektiven-Artikel geht auch auf die Kritiker des Kohlenhydrat-Insulin-Modells ein und führt Gegenargumente an. Dies ist wichtig, denn noch handelt es sich eben um ein Modell, für das es zwar viele Hinweise und erste Forschungsergebnisse gibt, jedoch auch noch offene Fragen und weiße Flecken auf der Landkarte der Erkenntnis. Genau das zeichnet den Artikel aus: Er stellt etwas zur Diskussion, bietet Denkansätze für neue Forschungen. So funktioniert Wissenschaft, im Diskurs und in offener, sachlicher Auseinandersetzung!
Der britischen Ernährungswissenschaftlerin Dr. Zoë Harcombe geht die Kritik des neuen Modells am alten Energiebilanzmodell nicht weit genug. Sie merkt an, dass wir noch mehr Debatten, Offenheit und Modelle brauchen, um die bisherigen, offenbar falschen Glaubenssätze bezüglich Energie und Gewicht zu hinterfragen und zu besseren Erklärungen zu kommen. Nicht aus Selbstzweck, sondern um den vielen Millionen Betroffenen wirksamer helfen zu können.
Mein Senf dazu
Viel zu lange hat man sich überwiegend auf das Energiebilanzmodell verlassen und die Dicken der Völlerei bezichtigt, wenn sie nicht abnahmen. Doch wenn wir nicht besser verstehen, WARUM sich Menschen überessen, WARUM sie sich nicht bewegen wollen, dann haben wir schlechtere Chancen, die Adipositas- und auch die Typ-2-Diabetes-Epidemien, die uns seit Jahren plagen und denen viele Menschen zum Opfer fallen, zu besiegen.
Mehr über meine Arbeit, meine Bücher sowie Veranstaltungs-Termine auf meiner Webseite ulrikegonder.de
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