Nun ist es amtlich! Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) verkündete aus Bonn, man habe nun umfassend Antwort auf die kontrovers diskutierte Frage gegeben, ob das Fett in unserem Essen dick und krank macht. Gemeint ist die erste „evidenzbasierte Leitlinie“ zum Thema „Fettkonsum und Prävention ausgewählter ernährungsmitbedingter Krankheiten“. Hinter dem Wurmnamen steckt die erste systematische Auswertung der wissenschaftlichen Daten zum Einfluss verschiedener Nahrungsfette auf die Entstehung bzw. Verhütung von Übergewicht, Fettstoffwechselstörungen, Herz- und Gefäßerkrankungen, Diabetes sowie einiger Krebsarten.
Diese erste evidenz-basierte Leitlinie ist ein großer Fortschritt für die Ernährungswissenschaft. Leitlinien sind dazu da, Beratern und Ärzten in der täglichen Arbeit als Entscheidungshilfe zu dienen. Der Begriff „evidenz-basiert“ stammt aus der Medizin, wobei Evidenz sinngemäß für Beweis steht. Es geht im Grunde darum, Entscheidungen über Diäten oder Medikamente aufgrund einer systematischen Sammlung und Bewertung der wissenschaftlichen Daten zu geben – und nicht aus dem Bauch heraus.
Kritiker nannten das bisherige Vorgehen oft ketzerisch „eminenz-basierte“ Ernährungswissenschaft: Anstelle von harten Daten schienen oft genug die Meinungen grauer Eminenzen die Ernährungsempfehlungen geprägt zu haben. So z.B. die Empfehlung maximal drei Eier pro Woche zu essen, die sich wissenschaftlich nicht begründen lässt.
Nun ist gegen Erfahrungswissen und den Sachverstand von Experten nichts einzuwenden, wenn keine anderen Daten verfügbar sind. Auch zur Ergänzung der wissenschaftlichen Datenlage ist neben fachlichem Know How Fingerspitzengefühl und Erfahrung gefragt. Darauf hat schon der Begründer der evidenz-basierten Medizin, der Schotte Archie Cochrane hingewiesen. Denn Studienergebnisse, und seien sie noch so sorgfältig gewonnen, gelten in der Regel nur für die untersuchten Personen-, Patienten- oder Altersgruppen. Daher muss beispielsweise ein Arzt bei einem Patienten, der jünger, älter, dicker, dünner oder kränker ist, als die Teilnehmer der Studien, nach seiner Erfahrung und auf eigene Verantwortung entscheiden, ob er ein Medikament trotzdem verordnet.
Gleiches gilt für die Ernährungsberatung. Zudem gibt es zu vielen Fragen noch gar keine aussagekräftigen Studien. Höchst problematisch ist jedoch, wenn trotz des Vorliegens guter Daten „eminenz-basierte“ Empfehlungen ausgesprochen werden. Daher war es ein wesentliches Ziel dieser ersten evidenz-basierten Leitlinie über Fett in der Krankheitsverhütung „einen Korridor zu markieren, der falsche, ungesicherte und überflüssige Ratschläge ausgrenzt, aber gleichzeitig die notwendigen Freiheiten für individuell flexible gesundheitsförderliche Maßnahmen erlaubt.“
Wie ist sie denn nun geworden, die neue Leitlinie? Hält sie, was ihre Autoren versprechen? Hat man den Einfluss der Eminenzen eingrenzen können? Einer, der die Aussagen der DGE zum Thema Fett und Gesundheit seit langem kritisch begleitet, ist der Münchner Ernährungswissenschaftler und Buchautor Dr. Nicolai Worm. Er hebt an der neuen Leitlinie positiv hervor, dass zumindest die Kapitel über die Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus), Bluthochdruck, Schlaganfall und Krebs umfassend, transparent, neutral und schlüssig formuliert sind.
Fazit dieser Kapitel ist es, dass die Höhe des Fettkonsums das Risiko für diese Krankheiten wahrscheinlich nicht beeinflusst. Das heißt nicht, dass man nun Fett in Unmengen verschlingen könnte, denn das würde die Kalorienbilanz sprengen und über den Umweg Überernährung und Übergewicht die genannten Krankheiten fördern. Die Leitlinie besagt aber, dass es wahrscheinlich keinen eigenständigen Effekt von Fett gibt. Anders ausgedrückt: Solange die Kalorienbilanz stimmt, kann nach Belieben Fett gegessen werden, ohne das Risiko für die untersuchten Krebsarten, für Bluthochdruck, Schlaganfall oder Diabetes zu erhöhen.
Das Wort „wahrscheinlich“ ist in diesem Zusammenhang keine Floskel, sondern bezeichnet die Bewertung der vorliegenden Studiendaten. „Wahrscheinlich“ bedeutet, dass die Studien einigermaßen konsistente Daten lieferten, dass es aber noch Schwächen gibt oder dass auch Argumente für eine gegenteilige Beziehung vorliegen. Wahrscheinliche Zusammenhänge sind also nicht überzeugend belegt. Für einen überzeugenden Beleg wird gefordert, dass eine erhebliche Anzahl an ausreichend großen und qualitativ hochwertigen Studien vorliegt, deren Ergebnisse konsistent sein müssen.
Doch wie sieht es nun mit den anderen Kapiteln aus, die sich Übergewicht, Fettstoffwechselstörungen und dem Herzinfarkt widmen? Wer sich die Autoren dieser Kapitel ansieht, wird sich fragen, ob hier nicht doch einmal der Bock zum Gärtner, sprich die Eminenz zur Evidenz gemacht wurde. Es ist vermutlich kein Zufall, dass der Münchner Ernährungswissenschaftler Worm genau bei diesen drei Kapiteln erhebliche sachliche Bedenken hat: In diesen Punkten „genügt die Leitlinie den selbst gestellten Ansprüchen nicht.“
Worm wirft den Autoren vor, Studien einseitig ausgewählt, einige Ergebnisse verfälschend dargestellt zu haben und so zu nicht nachvollziehbaren Aussagen gekommen zu sein. So sind beim Thema Übergewicht einige Studien nicht oder nur am Rande erwähnt, die keinen Zusammenhang zwischen der Fettzufuhr und Übergewicht fanden. Unter anderem hatte die Düsseldorfer Donald-Studie auch an deutschen Kindern gezeigt, dass der Fettanteil des Essens nicht für Übergewicht verantwortlich gemacht werden kann. Dazu passt die Beobachtung, dass in den USA, in Deutschland, England, Dänemark, den Niederlanden und in vielen anderen Ländern der Welt der Fettanteil des Essens über die letzten Jahrzehnte zurückgegangen ist, dass die Menschen aber zugleich mehr Kalorien verzehrt haben und dicker geworden sind.
Nicht nachvollziehbar ist, dass die DGE die mehr als mageren Erfolge von fettarmen Abnehmdiäten als überzeugend einstufte. Mit solchen Diäten – so die wissenschaftlichen Studien – lassen sich im ersten Jahr maximal 3 Kilo abspecken. Nach drei Jahren ist von diesem „überzeugenden“ Erfolg dann so gut wie nichts mehr zu sehen – für massiv Übergewichtige sicher keine große Hilfe.
Die zahlreichen Diätvarianten mit einem erhöhten Fett- und/oder Eiweißanteil, zu denen in den letzten Jahren mehrere viel versprechende Studien erschienen sind, werden von der Leitlinie nicht angemessen gewürdigt. Das ist besonders bedauerlich, weil sich mit fett-eiweiß-betonten Kostformen nicht nur die Gewichtsabnahme, sondern auch der Fettverlust und der Erhalt der Muskulatur verbessern lassen. Zudem sättigen sie besser als fettarme Diäten und führen zu günstigeren Werten im Fettstoffwechsel. In der Leitlinie fand vor allem die extreme Atkins-Diät Beachtung, wobei die Autoren allerdings eingestehen mussten, dass sich auch damit über sechs Monate lang effektiv abnehmen lässt.
Zwar bestätigt die Leitlinie, dass gesättigte Fettsäuren (vor allem Butter, Wurst, Käse, Milch, Kokos- und Palmkernfett) nicht nur das „böse“ LDL-Cholesterin anheben, sondern zugleich auch das „gute“ HDL-Cholesterin und dass eine höhere Fettzufuhr auf Kosten der Kohlenhydrate die Blutfette (Triglyzeride) senkt. Dennoch wurden die gesättigten Fettsäuren mit „überzeugender“ Evidenz für Fettstoffwechselstörungen verantwortlich gemacht – für Nicolai Worm ein weiterer Kritikpunkt an der Leitlinie. Er argumentiert mit einer Reihe von Studien, die gezeigt haben, dass sich mit weniger gesättigten Fettsäuren die Fett- und Cholesterinwerte im Blut auch verschlechtern können. Umgekehrt verbesserten sich viele Blutwerte, wenn anstelle von Kohlenhydraten mehr gesättigte Fettsäuren verzehrt wurden.
Noch besser ist es allerdings, wenn Kohlenhydrate durch ungesättigte Fettsäuren ersetzt werden. Dies verbessert die typischen Veränderungen im Fett- und Cholesterinstoffwechsel (geringes HDL-Cholesterin, erhöhte Triglyzeride) von Übergewichtigen, Diabetikern und anderen Patienten mit gestörter Insulinwirkung. Sie könnten besonders von einer Erhöhung der Fettzufuhr zulasten der Kohlenhydrate profitieren. Mit dem von der DGE empfohlenen Fettanteil von maximal 30 Prozent der täglichen Kalorien, so Worm, sei dieses Ziel jedoch nicht realisierbar. Somit blieben viel versprechende Therapieansätze unberücksichtigt.
Zu guter Letzt sollen noch einige positive Aspekte hervorgehoben werden. So stellte die DGE ihre Leitlinie vor der Veröffentlichung im Internet zur Diskussion – und das nicht nur pro forma. Die Diskussion hat tatsächlich zu Veränderungen im Text geführt, wenngleich sicher nicht alle kritischen Punkte ausgeräumt sind. Immerhin befand man in der Endfassung, dass es wahrscheinlich keinen Effekt der konsumierten Fettmenge auf das Herzinfarktrisiko gibt. Und der ursprünglich als „wahrscheinlich“ eingestufte Zusammenhang zwischen koronaren Herzkrankheiten und gesättigten Fettsäuren wurde schlussendlich nur noch als „möglich“ eingestuft. „Möglich“ bedeutet, dass es an qualitativ hochwertigen Studien mangelt. Mit anderen Worten: Es ist keineswegs gesichert, dass gesättigte Fettsäuren zu Herzinfarkt führen. Welch ein Erfolg!
Welch eine Wortklauberei, mag mancher jetzt denken. Das Problem sind jedoch noch nicht so sehr die Wortspiele. Die haben ihren wissenschaftlichen Sinn. Doch was geschieht in der Praxis? Umsetzen müssen die neue Leitlinie die Ernährungsberater und Diätassistenten, die täglich mit ihren Klienten an einer gesundheitsförderlichen Ernährung arbeiten. Doch werden die Botschaften dort ankommen? Die Botschaft, dass der seit Jahren gepredigte Zusammenhang zwischen gesättigten Fettsäuren und Herzinfarkt ganz schön wackelig ist? Die Botschaft, dass der Fettkonsum weder das Risiko für Diabetes noch für bedeutende Krebserkrankungen erhöht? Die Botschaft, dass die Butter auf dem Brot nicht zum Schlaganfall führt?
Es ist zweifelhaft, ob in der Ernährungsberatung auch nur bemerkt wird, dass es neue Botschaften gibt. Denn dazu trägt die DGE selbst bei – ein Schelm, wer Böses dabei denkt. So ändert sie trotz der deutlich schwächeren Evidenzen nichts an ihren Ernährungsempfehlungen. Auch teilt sie den Beratern vor Ort nicht explizit mit, dass man den Einfluss des Fettkonsums auf die Entstehung von Übergewicht ganz offensichtlich 40 Jahre lang überschätzt hat, dass man ihn heute als unsicherer ansieht als bisher. Stattdessen heißt es in der eingangs erwähnten Meldung der DGE: „Zu viel Fett macht fett – ein ansteigender Konsum von Fett erhöht mit wahrscheinlicher Evidenz das Risiko für Adipositas“. Wer soll da durchblicken? Wer weiß, dass „wahrscheinlich“ eben nicht „überzeugend“ bedeutet? Wer ahnt, dass auch das „wahrscheinlich“ immer noch eine Überbewertung ist? Wer kommt nach 326 Seiten einer lange erwarteten und im Prinzip sehr begrüßenswerten Leitlinie noch auf die Idee, dass hinter einigen Aussagen wohl doch noch ein wenig mehr Eminenz als Evidenz steckt?
erschienen in der Saarbrücker Zeitung am 15.3.2007