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Geschmacksverstärkt zum Übergewicht

Wer als braver Verbraucher artig die Zutatenlisten seiner Einkäufe studiert, findet darauf häufig den Geschmacksverstärker Glutamat. Von Chips bis Fertigmenüs, von Pizza bis Tütensuppe scheint kein modernes Produkt der Lebensmittelindustrie ohne den Geschmacksbeschleuniger auszukommen. Doch obwohl es gesetzlich zugelassen und so weit verbreitet ist, bleibt das Glutamat ein sehr umstrittener Lebensmittelzusatz.

Bereits beim ersten Kontakt mit Glutamat läuft einem sprichwörtlich das Wasser im Mund zusammen. Food-Designer wissen, dass alles, was den Speichel fließen lässt, den Menschen unbewusst zum Weiteressen animiert. Daher wundert es nicht, dass das Glutamat seit langem im Verdacht steht, Übergewicht zu fördern. So ist bekannt, dass Versuchstiere schneller und gieriger fressen, wenn ihr Futter Glutamat enthält. Doch wie sieht es beim Menschen aus? Eine französische Untersuchung zeigte schon zu Beginn der neunziger Jahre, dass Diabetiker von glutamathaltigen Mahlzeiten mehr und schneller essen. Allerdings stieg die Gesamtenergiezufuhr in diesem Experiment nicht. Also Entwarnung für den Geschmacksturbo?

Hie und da eine Prise Glutamat im Essen ist kein Grund zur Sorge. Doch bei Menschen, die auf Glutamat empfindlich reagieren und die regelmäßig reichlich mit Glutamat „gewürzte“ Speisen verzehren, sieht das wahrscheinlich anders aus. So fördert Glutamat die Insulinausschüttung, noch bevor es im Blut angekommen ist. Viel Insulin kann jedoch zu Heißhunger führen und so das Überessen und die Entstehung von Übergewicht fördern.

Zudem fördert Glutamat die Ausschüttung des Stresshormons Kortison. Auch diesem Hormon kommt eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Übergewicht zu. Es fördert vor allem die Einlagerung von Fett. Aus Tierversuchen ist bekannt, dass es durch Glutamat zu Hirnschäden mit gestörten Hormonkreisläufen kommt. In deren Folge gerät der Insulin- und Zuckerstoffwechsel aus den Fugen. Ein gestörter Insulin- und Zuckerstoffwechsel führt zum so genannten Metabolischen Syndrom, einer Anhäufung mehrerer Stoffwechselstörungen, die sich zurzeit weltweit epidemieartig ausbreitet. Seltsamerweise gibt es zu diesen Phänomenen im Zusammenhang mit Glutamat kaum wissenschaftliche Studien. Warum wohl?

Etwas mehr Licht ins Dunkel bringen die Untersuchungen und Überlegungen von Professor Michael Hermanussen aus dem norddeutschen Altenhof. Der Kinderarzt hält die chronische Aufnahme hoher Glutamatmengen für einen wesentlichen Grund des Übergewichtsproblems. Als Ursache führt er die nervenschädigende Wirkung des Geschmacksverstärkers an (s.u.). Da der Appetit von Nervenzellen im Gehirn reguliert wird, die durch Glutamat Schaden nehmen können, sieht er hier die entscheidende Verbindung.

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Um seine Theorie zu testen, verabreichte Hermanussen Glutamat an schwangere Ratten und fand, dass der Geschmacksverstärker das Geburtsgewicht des Nachwuchses senkte, die Bildung des Wachstumshormons störte, die Fressgier steigerte und zu Übergewicht und Kleinwüchsigkeit führte. Auch stark übergewichtige Menschen fallen häufig durch eine kleine Statur auf.

Von der Glutamat herstellenden und verwendenden Industrie wird gerne abgestritten, dass der Turbo für den Geschmack auch das Gewicht verstärken kann. Immerhin handelt es sich um einen Stoff, der in vielen Lebensmitteln von Natur aus enthalten ist. Vor allem Tomatenmark und Parmesankäse sind reich an natürlichem Glutamat. Sie enthalten es sogar teilweise in freier Form, was entscheidend für die geschmacksverstärkende Wirkung ist. Das dürfte die weltweite Beliebtheit von Tomatensoße erklären. Dennoch lassen sich mit üblichem Käse- und Tomatengenuss nicht die gleichen, teilweise exorbitanten Glutamatmengen erreichen, wie beispielsweise durch den Genuss „glutamatgewürzter“ asiatischer Suppen.

Auch eine andere Beobachtung spricht deutlich für einen Effekt von Glutamat auf das Gewicht: Da im Alter oft der Appetit nachlässt und das Körpergewicht ungewollt sinkt, sucht man nach wirksamen, den Appetit fördernden Stoffen für die Seniorenernährung. Eine Studie der Duke University in North Carolina berichtet, dass sich Glutamat als äußerst hilfreich erwies: Es erhöhte den Speichelfluss und verbesserte den Appetit alter Menschen. Was bei abgemagerten Altenheimbewohnern erwünscht sein mag, ist jedoch im Essen einer Gesellschaft, die zunehmend mit Übergewicht kämpft, fehl am Platz.

Kürzlich verabreiche Professor Hermanussen fünf gesunden aber deutlich übergewichtigen Frauen ein Medikament, das in der Lage ist, die schädliche Wirkung von Glutamat im Gehirn zu unterbinden. Es ist zur Behandlung der Alzheimer-Demenz zugelassen. Die Frauen sollten keine spezielle Diät einhalten, sondern nach Appetit essen. Binnen Stunden bemerkten sie, dass ihre Essgelüste nachließen und die störenden nächtlichen Essattacken ausblieben. Binnen Tagen sank auch ihr Gewicht, quasi nebenbei.

Um ungerechtfertigte Euphorien im Keim zu ersticken: Ein Wundermittel gegen Übergewicht ist damit nicht in Sicht. Zu viele Fragen rund um das Glutamat sind noch ungeklärt, zu vielschichtig ist die Entstehung von Übergewicht und zu hartnäckig wehrt sich der Körper üblicherweise gegen einen langfristigen Gewichtsverlust. Doch die Hinweise, dass Glutamat-Exzesse der Figur schaden, verdichten sich.

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erschienen in der Saarbrücker Zeitung 2005