Es gibt keine Diät, die Krebs heilen kann. Das ist unter Medizinern und Ernährungswissenschaftlern Konsens. Einig sind sich die meisten auch darüber, dass Krebspatienten dennoch von einer ausreichenden, qualitativ hochwertigen Ernährung profitieren, da sie die Lebensqualität verbessert, den Körper mit allem Notwendigen versorgt und ihn in die Lage versetzt, sich besser gegen die Krankheit zur Wehr zu setzen. Das ist sehr wichtig, denn neben jenen Patienten, die deutlich übergewichtig sind und eigentlich abnehmen müssten, kommt es bei vielen Krebskranken zu einer massiven Auszehrung. Sie magern immer mehr ab, verlieren Muskeln und kommen einfach nicht mehr zu Kräften. Deswegen empfiehlt man den Patienten Wunschkost, sie sollen essen, essen, essen, damit sie nicht vom Fleisch fallen. Genügt dies nicht, wird mit energiereichen Flüssigdiäten oder künstlicher Ernährung nachgeholfen. Nicht selten sind diese Maßnahmen wenig hilfreich. Die Krebs-Kachexie, die Auszehrung bei fortgeschrittenen Fällen mit Tochtergeschwulsten (Metastasen), ist eine häufige Todesursache bei Krebs.
Mindestens jeder fünfte Krebspatient verhungert in Deutschland, weil er kohlenhydratreich ernährt wird. Das sagt Dr. Johannes Coy, der als Tumorbiologe wissen sollte, wovon er spricht. Seine Hypothese: Krebszellen decken ihren hohen Energiebedarf in erster Linie über Zucker (Glucose). Sie sind kaum in der Lage, Fett und Eiweiß zu verwerten. Daher sollte die Ernährung von Krebspatienten kohlenhydratarm, aber fett- und eiweißreich sein. Die gängigen Empfehlungen reichen jedoch normalerweise von freier Wunschkost bis zur üblichen, kohlenhydratreichen, fettarmen „gesunden“ Ernährung. Und genau die bringe so manchen Patienten um, weil die Kohlenhydrate letztlich nur dem Tumor zugute kommen und ihn darüber hinaus besonders aggressiv machten.
Gänzlich neu sind diese Überlegungen nicht. Bereits 1924 fand der spätere Nobelpreisträger Otto Warburg heraus, dass Krebszellen sich von gesunden Zellen durch die Art der Energiegewinnung unterscheiden. Normale Zellen verwenden zur Energiegewinnung überwiegend Fett oder Zucker, sie können auch Eiweiß nutzen. Im Falle des Zuckers wird dieser in Anwesenheit von Sauerstoff stufenweise zu Kohlendioxid und Wasser „verbrannt“. Kommen wir durch Anstrengung außer Puste, wird die Sauerstoffversorgung knapp und es kann keine „Zuckerverbrennung“ mehr stattfinden. Für diesen Fall schalten die Zellen auf die „Vergärung“ von Zucker zu Milchsäure um. Dabei wird zwar weniger Energie frei, es ist aber auch nicht so viel Sauerstoff nötig. Diesen Notfallplan schlägt der Körper z.B. ein, wenn ein Läufer sprintet. Die anfallende Milchsäure lässt sich im Blut nachweisen und wird für den Muskelkater nach übermäßiger Anstrengung verantwortlich gemacht. Sobald der Läufer wieder bei Atem ist, wird die Glucose von normalen Zellen wieder „verbrannt“. Das hat schon Louis Pasteur beschrieben, weshalb die Umschaltung auch Pasteur-Effekt heißt.
Anders bei Krebszellen. Sie nutzen fast ausschließlich die Vergärung von Glucose zu Milchsäure – egal, ob genug Sauerstoff vorhanden ist oder nicht. Warum das so ist, konnte Otto Warburg 1924 noch nicht wissen, als er die Vorgänge erstmals beschrieb. Er wusste aber bereits, dass Krebszellen ihre inneren „Kraftwerke“ (die Mitochondrien) zur Verbrennung von Glucose abschalten und aus dem Zucker unentwegt Milchsäure herstellen. Das Abschalten der Mitochondrien macht die Krebszellen zudem resistenter gegen Chemo- und Strahlentherapie. Und weil die Mitochondrien auch zur Verbrennung von Fett und Eiweiß nötig sind, können jene Krebszellen, die ihre Mitochondrien weitgehend abgeschaltet haben, kaum Fett oder Eiweiß zur Energieversorgung nutzen. Sie haben sich von der Glucosezufuhr abhängig gemacht.
Der Darmstädter Johannes Coy ist diesem so genannten Warburg-Effekt mit modernen wissenschaftlichen Methoden nachgegangen. Er fand heraus, dass ein bestimmtes Enzym, das so genannte TKTL1, vor allem von aggressiven Krebszellen gebildet wird. Je mehr TKTL1, desto mehr Zucker wird zu Milchsäure vergoren und desto aggressiver wird die Tumorzelle. Denn die Milchsäure greift das umliegende Gewebe an, macht es quasi mürbe, so dass der Tumor leichter eindringen und Tochtergeschwulste streuen kann. Und das ist ein entscheidender Schritt, denn viele Tumoren werden erst mit der Aussendung solcher Metastasen lebensbedrohlich.
Dazu kommt, dass die Milchsäure unter hohem Aufwand vom Körper wieder in Glucose umgewandelt werden muss – die dann wieder dem Tumor zur Energiegewinnung und Übersäuerung gesunden Nachbargewebes zur Verfügung steht. Es beginnt ein Teufelskreis, der den Patienten viel Energie kostet und ihn auszehrt. Zwar spielen dabei auch viele andere Faktoren und entzündungsfördernde Substanzen eine Rolle. Eine hohe Kohlenhydratzufuhr kann ihn jedoch anheizen und so dazu beitragen, dass die Krebszellen den Organismus auf ihre Kosten abmagern lassen.
Coy und andere Wissenschaftler konnte inzwischen zeigen, dass eine Hemmung des TKTL1-Enzyms in Tumoren zu weniger Milchsäure führt, dass mehr Milchsäure Tumoren aggressiver macht und dass die TKTL1-Bildung im Tumor mit Hilfe einer speziellen Färbemethode sichtbar gemacht werden kann. Das heißt, dass man Tumorgewebe bereits in einem Labor auf das Vorhandensein von zu viel TKTL1 untersuchen lassen kann.
Diese Erkenntnisse haben Coy nicht ruhen lassen, sondern ihn bewogen, speziell für Patienten mit TKTL1-positiven Tumoren eine Diät zu entwickeln, die kaum Kohlenhydrate, dafür aber reichlich hochwertige Fette und Proteine liefert. Fütterungsversuche mit Nacktmäusen bestätigen die prinzipielle Wirksamkeit des Konzeptes: Den Tieren wurden menschliche, TKTL1-positive Tumoren unter die Haut gepflanzt. Anschließend wurden die Tiere in zwei Gruppen aufgeteilt, von denen eine normales, kohlenhydratreiches Labornagerfutter erhielt. Die andere Gruppe erhielt Coys Diät mit hoch ungesättigten Ölen, hochwertigem Eiweiß und normalen fett- und eiweißreichen Lebensmitteln. Die Diät schmeckte den Tieren sehr gut. Was aber viel wichtiger ist: Bei den Tieren, die die kohlenhydratarme Diät gefressen hatten, wuchsen die Tumoren deutlich langsamer, so dass sich ihre Lebenszeit deutlich verlängerte. Erste Fallberichte von Patienten sprechen sogar für noch bessere Erfolge, weil sie im Gegensatz zu den Nacktmäusen über ein intaktes Immunsystem verfügen, das die Tumorzellen aktiv bekämpfen kann.
Die kohlenhydratarme Kost führt dazu, dass den Tumorzellen die dringend benötigte Glucose entzogen wird und dass die gesunden Zellen auf Fettverbrennung umstellen – was die besonders aggressiven Tumorzellen ja nicht mehr können.
Der Körper baut das Nahrungsfett zu Fettsäuren und Ketonkörpern um, die dann von den gesunden Zellen zur Energiegewinnung genutzt werden können. Daher spricht man von einer ketogenen Diät. Da sie kaum Kohlenhydrate enthält, muss die Bauchspeicheldrüse kaum noch Insulin ausschütten. So bleibt der Blutzuckerspiegel gleichmäßig und niedrig. Die nach einem kohlenhydratreichen Essen auftretenden Blutzuckerspitzen werden vermieden. Der niedrige Insulinspiegel sorgt zudem dafür, dass die Krebszellen den wenigen Zucker nicht aus dem Blut aufnehmen können. Ohne Zucker können sie jedoch keine Energie gewinnen und ohne Energie können auch Krebszellen nicht wachsen.
Viele Ernährungsfachleute reagieren skeptisch auf diese Neuigkeiten. Es ist auch richtig, nicht alle neuen Ideen ungeprüft zu übernehmen und an Patienten weiterzugeben, zumal bei einer so schweren Erkrankung wie Krebs. Allerdings entspricht es bereits nicht mehr dem neusten Kenntnisstand, Kachexie-gefährdeten Krebspatienten eine überwiegend aus Kohlenhydraten bestehende Ernährung zu empfehlen. So bemerkt der aktuelle „Leitfaden Ernährungsmedizin“ aus dem Verlag Urban & Fischer im Kapitel über Krebserkrankungen: Die Besonderheiten im Stoffwechsels der Patienten „legen es nahe, im Ernährungsregime Fett auf Kosten der Kohlenhydrate anzureichern und viel Protein zuzuführen.“
Auch auf dem Stoffwechselkongress der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM e.V.) 2007 war Ähnliches zu hören. Manuela Freudenreich, Ernährungsberaterin an der Charité in Berlin, berichtete nicht nur, dass die Ernährung von Tumorpatienten eine Kombination verschiedener Ernährungstherapien und eine individuelle Einstellung auf die persönliche Situation des Patienten erfordere. Sie empfahl ebenfalls, die Fett- und Eiweißzufuhr zu erhöhen. Daneben hob sie die Bedeutung der Fettqualität hervor, vor allem der Omega-3 Fettsäuren. Die stecken in Rapsöl, Walnussöl, Walnüssen, Leinöl, Leinsaat, Perillaöl, in Fisch, Meeresfrüchten und im Fleisch von Weidetieren. "Diese Fette sollen einen positiven Einfluss bei Tumorpatienten haben, die durch den Krebs an Gewicht verlieren", so Freudenreich bei der Tagung im Februar in Berlin. Außerdem wirkten sie appetitfördernd und entzündungshemmend.
Und so sprechen trotz des noch verbleibenden, enormen Forschungsbedarfes bereits heute viele wissenschaftliche Mosaiksteinchen dafür, Tumorpatienten nur wenig Kohlenhydrate zu verabreichen – zumindest jene, deren TKTL1-Enzymtest positiv ausgefallen ist. Das sieht man auch in der Universitäts-Frauenklinik in Würzburg so. Deren Direktor, Prof. Dr. med. Johannes Dietl, lud im Februar 2007 Ärzte, Journalisten und Patienten zu einer Fachtagung zum Thema „Zuckerstoffwechsel und Krebs“ ein. Dort wurde auf hohem fachlichem Niveau und wohltuend sachlich über das Thema informiert. Dietls Team, allen voran die engagierte Krebs-Biologin Dr. Ulrike Kämmerer, hat Coys Ergebnisse und Überlegungen aufgegriffen und für stichhaltig genug befunden, um eine erste Studie mit Patienten durchzuführen.
Deren Ergebnisse dürfen mit Spannung und guter Hoffnung erwartet werden. Denn wenn Coy Recht behält, verhindert die ketogene Ernährung zumindest bei TKTL1-positiven Krebspatienten, dass sie auszehren und dass ihre Tumoren metastasieren. Die Patienten würden zudem von den nötigen Chemo- und Strahlentherapien eher profitieren. Dann gibt es zwar immer noch keine Diät, die Krebs heilen kann, aber eine, die ihm den größten Schrecken nehmen kann.
erschienen in der Saarbrücker Zeitung am 6./7.6.2007