(Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die Literaturangaben)
Krebs ist schlimm. Aber glücklicherweise kann man etwas dagegen tun: "Trinken Sie täglich grünen Tee wie ein Chinese, das schützt vor Magenkrebs!" oder "Krebsschutzstoff in Tomaten entdeckt!" oder "Eine ballaststoffreiche Kost verhindert Darmtumoren". So oder ähnlich wird den Menschen suggeriert, sie könnten Krebs verhüten, wenn sie nur das Richtige äßen.
Es sind nicht nur die Boulevardblätter, die auf der ständigen Jagd nach reißerischen Aufmachern begierig vorläufige Forschungsergebnisse aus den Labors der Krebsforscher aufnehmen. Auch seriöse Organisationen wie etwa der World Cancer Research Fund (WCRF) und das American Institute for Cancer Research (AICR) sind überzeugt davon, dass es sich bei Krebs um eine Krankheit handelt, die durch "richtige" Ernährung verhütbar ist (EU.L.E.N-SPIEGEL 1997/H.8/S.9-11, s.a. News vom 1.11.07).
Das Krebsrisiko einfach wegessen? Eine kritische Überprüfung der Fachliteratur zeigt, dass die Ernährungsempfehlungen zur Krebsprophylaxe eher Wunschdenken sind als wissenschaftliche Wirklichkeit.
Die Krebsforschung ist im Bereich der Ernährung in eine Sackgasse geraten. Nach jahrzehntelangen Bemühungen gibt es nur wenige gesicherte Erkenntnisse, es überwiegen offene Fragen und ernüchternde Studienergebnisse. Dennoch wird der Öffentlichkeit vermittelt, dass etwa ein Drittel aller Krebsfälle ernährungsbedingt und damit prinzipiell verhütbar sei (150).
Aufgrund dieser Annahmen werden Verbraucher beraten und beunruhigt, werden neue Produkte entwickelt und Strategien im öffentlichen Gesundheitswesen konzipiert. Höchste Zeit also, den Stand der Dinge einmal vorurteilsfrei zu hinterfragen.
Ein grundsätzliches Problem liegt in der exakten Ermittlung des Essverhaltens (74, 146-148). Wer je versucht hat, sich zu erinnern, was er am vergangenen Sonntag gegessen hat, weiß, wie schwer es ist, Menge und Zutaten des Verzehrten aufzulisten. Und da kaum jemand gerne zugibt, dass zwischendurch noch eine Tüte Gummibärchen oder eine Flasche Wein den Weg alles Essbaren gingen, haben alle Ernährungserhebungen das Problem, dass sie ungenau sind.
Weitere Ungenauigkeiten entstehen aufgrund fehler- und lückenhafter Nährwerttabellen und dadurch, dass viele Produkte mit gleichem Namen, wie etwa "Pizza" oder "Wurst", eine sehr unterschiedliche Zusammensetzung haben.
Um Zusammenhänge zwischen Krebs und Ernährung zu untersuchen, werden verschiedene Studientypen herangezogen, die sich in ihrer Aussagekraft erheblich unterscheiden. Die wichtigsten epidemiologischen Studien sind Fall-Kontroll-, prospektive Kohorten- und Interventionsstudien:
Die folgende Bewertung stützt sich - soweit vorhanden - auf Interventions- und prospektive Kohortenstudien, die signifikante Ergebnisse erbrachten.
Ein Studienergebnis ist dann statistisch signifikant, wenn der Vertrauensbereich den Wert 1 ausschließt. Nur in diesem Fall handelt es sich mit 600iger Wahrscheinlichkeit nicht um einen Zufallstreffer. Ein Beispiel: Ein relatives Risiko beträgt 0,7 und ist somit um 30% gesunken. Wird der Vertrauensbereich jedoch mit 0,4 - 1,2 angegeben, ist das Ergebnis dennoch nicht signifikant. In der epidemiologischen Literatur wird dies oft nicht beachtet.
Ratschläge zur Krebsprävention beinhalten meistens die folgenden Ernährungsempfehlungen:
Manche Organisationen wie die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) legen darüber hinaus besonderen Wert auf eine ausreichende Zufuhr der antioxidativen Vitamine C, E und ß-Carotin, um "präventive Plasmakonzentrationen" sicherzustellen (31). Doch wie gut sind solche Ernährungsregeln belegt?
Dass Obst und Gemüse gesund sind, weiß jedes Kind - spätestens dann, wenn es gezwungen wird, seinen Spinat aufzuessen. Im Falle der Krebsprävention scheint dies auch belegbar zu sein: Übereinstimmend werden Gemüse und Obst Schutzwirkungen zugeschrieben, vor allem bei Tumoren des Verdauungstraktes und der Lunge (11, 14, 133, 150). Nach Angaben des World Cancer Research Funds fanden 78% aller bisher veröffentlichten Studien eine signifikante Minderung des Krebsrisikos - bei wenigstens einer Obst- oder Gemüsekategorie und wenn alle Krebsarten zusammengenommen werden (150). Diese Aussage ist in mehreren Punkten irreführend.
Als konkretes Beispiel sei der Magenkrebs herausgegriffen, bei dem ein Krebsschutz durch Ernährung plausibel ist, kommt der Magen doch in innigen Kontakt mit der Nahrung. Zu diesem Thema liegen bislang sechs prospektive Studien vor: Allerdings erbrachten nur zwei ein signifikant erniedrigtes Risiko, eine, wenn viel Gemüse auf den Tisch kam (100), die andere bei hohem Zwiebelkonsum (32). Beim Obst fanden zwei Studien ein vermindertes Magenkrebsrisiko bei hohem Verzehr (40, 100), in zwei weiteren Studien kam es dagegen zu mehr Magenkrebs (72, 77).
Wenn man bedenkt, dass Magenkrebs vorwiegend eine Krankheit der Armen ist, die unter schlechten hygienischen Bedingungen leben müssen, und dass diejenigen, die einen Kühlschrank besitzen, seltener an Magentumoren erkranken (100), dann lassen die vorliegenden Daten nur einen Schluss zu: Magenkrebs wird weniger durch einzelne Lebensmittel beeinflusst. Entscheidend ist vielmehr die Hygiene bei der Produktion und Lagerung von Grundnahrungsmitteln.
Dazu kommt, dass eine Infektion mit Helicobacter pylori die Entstehung von Magentumoren fördert. Schlechte hygienische Verhältnisse leisten wiederum der Übertragung der Bakterien Vorschub, die als cancerogen für den Menschen eingestuft wurden (65).
Die Datenlage bei Magenkrebs ist typisch, denn auch bei anderen Krebsformen sind prospektiv erhobene, signifikant erniedrigte Risiken eher die Ausnahme. So fand sich nur in fünf von zehn Untersuchungen ein vermindertes Risiko für Lungenkrebs bei steigendem Obst- und/oder Gemüsekonsum, allerdings bei wechselnden Kategorien: Zweimal waren es die Teilnehmer, die das meiste Obst aßen (36, 84), einmal jene, die viel Gemüse und Blattsalate verspeisten (131), einmal profitierten nur Raucher und Ex-Raucher von großen Gemüseportionen (139), dann wieder nur Nichtraucher, die viel Äpfel aßen (80).
Das gleiche Verwirrspiel beim Darmkrebs: Von vier Studien fand eine keinen Zusammenhang zu grünem Salat (111), einmal sank das Risiko nur, wenn auch regelmäßig Aspirin eingenommen wurde (135), einmal sank es nur bei Frauen, die viel Obst aßen, während es sich bei den Männern mit steigendem Konsum grüner Gemüse erhöhte (125), einmal fand sich unter 15 Gemüsearten nur eine Korrelation zu Knoblauch (132).
Insgesamt herrscht ein beispielloser Datensalat, der einen Krebsschutz für Gemüse und Obst allgemein, und erst recht für einzelne Arten, in Frage stellt. Die überwiegende Mehrheit der Studien spricht gegen einen direkten Zusammenhang.
Vielleicht wirken aber jene Stoffe protektiv, die in pflanzlichen Lebensmitteln in wechselnden Mengen enthalten sind und die schon lange als "gesund" gelten: die Vitamine.
Grundannahme der Antioxidantien-Hypothese ist, dass Krebs aufgrund von "oxidativem Stress" durch freie Radikale entsteht. Freie Radikale sind aggressive Moleküle, die Zellmembranen und die Erbsubstanz (DNS) schädigen können. Antioxidantien, allen voran die Vitamine C und E sowie die Vitamin-Vorstufe ß-Carotin, sollen die aggressiven Radikale abfangen und so vor Krebs schützen.
Vor allem das ß-Carotin hatte es den Krebsforschern angetan: Es kommt in vielen Obst- und Gemüsesorten vor und galt als völlig ungefährlich. Tatsächlich gab es Hinweise darauf, dass es vor Lungenkrebs schützt: In einigen Studien waren niedrige ß-Carotin-Spiegel im Blut mit höheren Krebsraten einhergegangen (57, 128). Auch Labor- und Tierexperimente (4, 49) sowie einige Fall-Kontroll-Studien (z.B. 23, 30, 81) lieferten vielversprechende Ergebnisse.
Die prospektiven Studien zeigten immerhin einen Trend zu sinkenden Krebsraten, der jedoch nur selten signifikant war (75, 84, 101, 124, 125, 131). In diesen Studien wurde allerdings nicht etwa die ß-Carotinzufuhr gemessen, sondern der Obst- und Gemüseverzehr erfragt. Daraus berechnete man die mutmaßlich gegessene ß-Carotinmenge. Da es für ß-Carotin lange keine Analysendaten gab (13, 150), kann man sich leicht vorstellen, von welcher Qualität die Studienergebnisse sind.
Dennoch machte man die Probe auf´s Exempel und begann, in Interventionsstudien ß-Carotin in Pillenform an Risikogruppen wie Raucher zu verabreichen, um sie vor Lungenkrebs und frühem Tod zu schützen. Die drei sehr sorgfältig durchgeführten, doppelblinden Untersuchungen fielen jedoch katastrophal aus:
Die Interventionsstudien zeigen deutlich, dass ß-Carotin-Supplemente Risikogruppen wie Rauchern schaden und anderen nichts nützen.
Einer der Autoren der Physicians Health Study bemerkt enttäuscht, dass die Studienergebnisse "jede noch verbliebene Hoffnung darauf, dass ß-Carotin-Supplemente, zumindest für Erwachsene, ein effektives Mittel seien, um das Risiko für Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu senken, im Keim ersticken". Die Resultate "senden eine klare Botschaft an die Öffentlichkeit, und die zig Millionen Dollar, die jedes Jahr für ß-Carotin-Supplemente ausgegeben werden, sollten nützlicheren Zwecken zufließen" (103).
Die Bildung von Radikalen ist ein für den Körper lebenswichtiger Vorgang. Er nutzt sie z.B. zur Energiegewinnung und zur Krankheitsabwehr. Um Schaden zu verhüten, laufen die betreffenden Redox-Reaktionen kontrolliert und stufenweise ab. Gibt man von außen einzelne Antioxidantien zu, läuft dieses fein abgestimmte System Gefahr, aus den Fugen zu geraten: Ein Teil der körpereigenen Redox-Systeme wird reduziert, der andere Teil oxidiert, wobei freie Radikale in großer Menge entstehen (62).
Blut ist reich an Eisen, und in der Lunge kommen große Mengen Sauerstoff dazu - für ß-Carotin offenbar ideale Bedingungen, um Radikale zu bilden und das ohnehin angegriffene Lungengewebe von Rauchern zu schädigen (61, 62, 102).
So lassen sich auch die niedrigen Plasma-Spiegel bei Rauchern einordnen: Da Raucher ihre Lungen ohnehin oxidativem Streß aussetzen und ß-Carotin hier zusätzliche Schäden anrichten kann, senkt der Körper zu seinem Schutz die ß-Carotinmenge im Blut ab. Das würde erklären, dass Raucher niedrige ß-Carotinspiegel brauchen und warum Carotin-Supplemente bei ihnen Lungenkrebs fördern (137).
Vitamin C soll vor allen möglichen Krebsarten schützen. Wer nach epidemiologischen Belegen für diese Hypothese sucht, wird jedoch kaum fündig.
Zum Thema Lungenkrebs fanden nur drei (84, 75, 130) von sechs prospektiven Kohortenstudien ein signifikant vermindertes Risiko, davon eine nur bei Nichtrauchern (75) und eine nur bei Frauen (130). In fünf von sechs Studien ließ sich demnach bei männlichen Rauchern kein Zusammenhang herstellen.
Aufgrund seiner antioxidativen Eigenschaften und seiner Fähigkeit, die Bildung von Nitrosaminen zu unterbinden, soll Vitamin C auch vor Magenkrebs schützen. Hierzu liegen nur zwei prospektive Studien vor: Eine fand keinen Zusammenhang (26), das Ergebnis der anderen ist nicht signifikant (155).
Zu Vitamin E und Krebs liegt nur eine Interventionsstudie vor (134). Deren einziges signifikantes Ergebnis ist ein vermindertes relatives Risiko bei Prostatatumoren in einem frühen Stadium. Allerdings nahm die Gesamtsterblichkeit in dieser Studie nicht ab: Zwar sank das Risiko, einem Prostatatumor zu erliegen, dafür starben mehr Teilnehmer an hämorrhagischen Hirninfarkten, weil das Vitamin E die Blutungsneigung erhöht.
Außerdem scheinen Krebszellen in der Lage zu sein, das Gleichgewicht zwischen oxidativen und antioxidativen Substanzen in ihrer Umgebung zu ihren Gunsten zu verschieben. So fand man besonders bei Patientinnen mit aggressiven Brusttumoren erhöhte Vitamin-E-Spiegel und weniger Oxidationsprodukte als bei Gesunden (46). Damit würde ein eventueller antioxidativer Effekt nur dem Tumor zugute kommen.
Weder Vitamin C und E noch ß-Carotin haben die in sie gesetzten Hoffnungen als Krebsschutzstoffe erfüllen können. Im Gegenteil: Megadosen dieser vermeintlichen "Antioxidantien" überfluten den Körper mit Radikalen, insbesondere in Anwesenheit von Eisen.
Besonders gefährdet sind Menschen, die zu gut gefüllten Eisenspeichern neigen (61). Zumindest ihnen und allen Rauchern ist daher dringend von Vitaminpillen abzuraten. Wahrscheinlich beruht die vereinzelt beobachtete therapeutische Wirksamkeit von Megadosen auf der massiven Bildung aggressiver Radikale, die z.B. auf Krebszellen zytostatisch wirken.
Auch Vollkornbrot wird nachgesagt, es schütze vor Krebs, insbesondere vor Darmkrebs. Diese Ansicht beruht schlicht auf einem Fehlschluss: In Obst- und Gemüse-Studien wurden neben Vitaminen auch die Ballaststoffe berechnet. Da ein hoher Obst- und Gemüseverzehr gelegentlich mit einem verminderten Darmkrebsrisiko einhergeht, findet sich der gleiche Zusammenhang logischerweise auch mit den Ballaststoffen aus Obst und Gemüse.
Daraus schloss man, dass Ballaststoffe schützen. Und da Getreide ballaststoffreich ist, empfiehlt man Vollkornprodukte zur Darmkrebsprophylaxe (144). Dabei gibt es bis heute keine prospektive Studie zu dieser Empfehlung, so dass die tatsächliche Wirkung von Vollkorngetreide auf den Darm noch immer ungeklärt ist. Doch wie sieht es mit den Ballaststoffen selbst aus?
Die Hypothese, dass Ballaststoffe vor Darmkrebs schützen, ist bereits 30 Jahre alt und geht auf Burkitt zurück (21). Er hatte in Afrika beobachtet, dass die Einheimischen selten an Darmkrebs litten und führte dies unter anderem auf die Ernährung zurück, die aufgrund des hohen Anteils pflanzlicher Lebensmittel reich an "Rohfaser" war. Obwohl sich das Leben in einem südafrikanischen Kraal von dem in New York nicht nur in puncto Essen unterscheidet, beschränkten sich die Ernährungs-Epidemiologen auf dieses Detail, als wäre die Ballaststoffaufnahme der entscheidende Unterschied zwischen beiden Kulturen.
Die Ergebnisse der prospektiven Kohortenstudien widersprechen der Ballaststoff-Hypothese: Von den sieben bislang veröffentlichten Arbeiten konnte keine einzige einen Schutzeffekt belegen (39, 51, 59, 73, 122, 132, 145).
Schon die Bezeichnung Ballaststoffe ist problematisch, denn es handelt sich um eine sehr heterogene Gruppe pflanzlicher Inhaltsstoffe, die zudem eng mit einer Vielfalt sehr unterschiedlicher pflanzlicher Abwehrstoffe vergesellschaftet ist, sogenannter Antinutritiva: z.B. Phenole, Phytate und Enzyminhibitoren (6).
Deshalb stellt die Ballaststoff-Hypothese bestenfalls eine "starke Vereinfachung" dar (144). Obst, Gemüse und Getreide enthalten Tausende von Substanzen, die das Krankheitsrisiko beeinflussen können und die miteinander interagieren: Vitamine, Mineralstoffe, Stärke, resistente Stärke, Antinutritiva, Phytoöstrogene, Mycotoxine, Pestizidrückstände und andere Umweltgifte. Sie lassen sich nicht auf den Ballaststoffgehalt reduzieren, der noch dazu meist errechnet und nicht analysiert wurde. Denkbar ist jedoch, dass manche ballaststoffreichen Lebensmittel Substanzen enthalten, die eine Schutzwirkung ausüben könnten (s.u. Phytoöstrogene).
Der Verzehr von Fleisch, insbesondere "rotem Fleisch" soll unter anderem das Darmkrebsrisiko erhöhen. Die Empfehlung, den Verzehr von "rotem Fleisch" zu reduzieren und stattdessen Geflügel und Fisch ("weißes Fleisch") zu essen, ist daher en vogue.
Unter rotem Fleisch wird im allgemeinen Rind-, Schweine- und Lamm- bzw. Schaffleisch verstanden, oft auch die daraus hergestellten Fleischerzeugnisse. Allerdings drängt sich manchmal der Eindruck auf, man gruppiere die betreffenden Lebensmittel so lange um, bis sich die gewünschten Korrelationen herstellen lassen.
John Potter, einer der führenden amerikanischen Krebsepidemiologen, fasst den Sachstand so zusammen (115): "Trotz des klaren genetischen Einflusses spielt die Lebensweise eine entscheidende Rolle bei der Darmkrebsentstehung. Die bislang durchgeführten Studien zeigen, dass beim Dickdarmkrebs ... ein hoher Gemüse- und Obstkonsum mit einem verminderten Risiko verbunden ist, das sich nicht allein durch den Ballaststoffgehalt erklären lässt. Des weiteren ist der Verzehr von Fleisch mit einem erhöhten Risiko verbunden, das sich wiederum nicht allein durch den Fettgehalt erklären lässt".
Und was ergaben die epidemiologischen Studien? Im internationalen Vergleich zeigt sich ein statistisch enger Zusammenhang zwischen dem Fleischverbrauch und der Krebshäufigkeit (z.B. 12, 29, 118). Das beweist jedoch gar nichts, denn sowohl ein hoher Fleischkonsum als auch hohe Darmkrebsraten sind ein Kennzeichen aller Wohlstandsgesellschaften, in denen zur gleichen Zeit auch die Anzahl der Farbfernsehgeräte, Verkehrsschilder und Computer ansteigt.
Auch gut die Hälfte der Fall-Kontroll-Studien (z.B. 5, 86, 108) fand einen positiven Zusammenhang zwischen Fleisch und Darmkrebs. Allerdings lassen sich die Studienergebnisse kaum vergleichen: Es wurden jedes Mal andere Lebensmittel erfragt, einmal scheint Rindfleisch der "Bösewicht" zu sein, ein andermal das Schweinefleisch.
Auch bei den prospektiven Kohortenstudien sind die Ergebnisse widersprüchlich: Von den acht bisher durchgeführten Kohortenstudien erbrachten nur zwei Arbeiten einen Zusammenhang zwischen Darmkrebs und Fleischkonsum (51, 145). In den anderen Studien wurden keine Belege dafür gefunden.
In zwei Studien (54, 145) entdeckte man mehr Darmkrebs, wenn viel Fleischerzeugnisse gegessen wurden, in einer weiteren waren davon nur Frauen betroffen, die häufig Bratwürste aßen (39).
Entweder spielt das Fleisch keine Rolle, oder aber dessen Zubereitung ist entscheidend. Die epidemiologischen Studien erlauben es nicht, den Einfluss der Verarbeitung zu beurteilen, da die einzelnen Fleischwaren nicht differenziert genug ermittelt wurden.
Am Beispiel Gemüse und Fleisch wird deutlich, dass es nicht genügt, Lebensmittelgruppen zu untersuchen. Lebensmittel sind weltweit anders zusammengesetzt, sie werden anders verarbeitet, es werden andere Beilagen dazu gegessen und andere Genussmittel dazu konsumiert. Es scheint sogar so zu sein, dass ein und dasselbe Lebensmittel in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Wirkungen entfalten kann. Der Tee ist ein recht anschauliches Beispiel dafür.
Am häufigsten werden Tumoren der Speiseröhre und des Magens mit dem Teetrinken in Verbindung gebracht. In der Speiseröhre soll er Krebs fördern und wenige Zentimeter weiter, im Magen, vor Tumoren schützen.
In einem Gebiet vom Iran bis zum Norden Chinas ist Speiseröhrenkrebs weit verbreitet. Schnell verdächtigte man den Tee als Verursacher, fand aber bald heraus, dass der Teekonsum nicht überall mit der Krankheit korreliert. So wird in der chinesischen Provinz Linxian, die weltweit eine der höchsten Raten an Speiseröhrenkrebs aufweist, kaum Tee getrunken (153).
Im Iran und in Kasachstan dagegen ließ sich eine Beziehung zum Teekonsum herstellen - allerdings nur, wenn die Trinktemperatur berücksichtigt wurde: Nur der Konsum sehr heißen Tees (55 - 67 °C) ging mit einem verdoppelten Krankheitsrisiko einher (28, 48, 65, 87).
Aber: Die Iraner, die in Regionen leben, wo Speiseröhrenkrebs häufig ist, sind sehr arm (48). Ihre beiden Grundnahrungsmittel sind Tee von minderer Qualität und ein Vollkornbrot, das häufig mit den Silikatfaser-bewehrten Samen des Grases Phalaris verunreinigt ist. Mehr Lebensmittel können sich die Bewohner nicht leisten. Wie in anderen armen Regionen der Erde wird wahrscheinlich auch hier Verdorbenes und Verschimmeltes gegessen.
Zudem ist jeder zweite Erwachsene Opium-abhängig. Die Droge wird nicht nur geraucht (auf diesem Weg erreichen nur geringe Mengen die Speiseröhre), sondern auch gegessen. Vor allem die morphinhaltigen Opiumreste, die sich in den Pfeifen absetzen (Sukh-teh), werden aufbereitet und geraucht oder verzehrt. Sukhteh ist mutagen und genotoxisch. Dafür, dass Opium Tumoren in der Speiseröhre auslöst, spricht weiterhin, dass das Krebsrisiko parallel mit dem Opiumgenuss steigt (99). Wahrscheinlich ist der Tee als Krebsauslöser unschuldig.
In anderen Regionen der Erde soll Tee sogar vor Krebs schützen. Die Einwohner Kyushus (Japan) erkrankten deutlich seltener an Magenkrebs, wenn sie täglich mehr als 10 Tassen grünen Tees tranken (92). Ähnliches wird aus der japanischen Teeanbauregion Shizuoka und aus Shanghai (68, 154) berichtet: Das relative Risiko, an Magenkrebs zu erkranken sank um etwa 30%, wenn sehr viel grüner Tee getrunken wurde. Ganz anders das Bild in europäischen und amerikanischen Studien: Weder in den USA noch in Griechenland, Holland, Italien, Spanien oder der Türkei, wo vor allem Schwarztee getrunken wird, fand sich ein Schutzeffekt (55, 66).
Schützt also der reichliche Konsum von grünem Tee vor Magenkrebs, während Schwarztee nichts nützt? Dagegen spricht, dass auch schwarzer Tee eine Fülle der bioaktiven Wirkstoffe enthält, die für die Schutzwirkung des grünen Tees verantwortlich sein sollen, wie Catechine und Flavonoide (153).
Eine andere Erklärung ist plausibler: In asiatischen Ländern ist Magenkrebs häufig, während er in Europa und den USA vergleichsweise selten vorkommt, so dass ein womöglich vorhandener Schutz durch Tee statistisch schwer zu erfassen ist.
Außerdem kann Magenkrebs verschiedene Ursachen haben. Aus Tierversuchen ist bekannt, dass Nitrosamine Magenkrebs verursachen und dass Tee oder Extrakte aus Tee diese Tumoren verhindern. Einige der typischen asiatischen Gerichte wie sauer eingelegte Gemüse enthalten Nitrosamine, die dort als wichtige Magenkrebsauslöser gelten (153).
Vor diesem Hintergrund lässt sich der in China und Japan beobachtete Schutzeffekt von grünem Tee erklären: Er wird dort in großen Mengen getrunken und ist offensichtlich in der Lage, Nitrosamin-induzierten Magenkrebs zu verhindern. Damit würde das traditionelle Getränk spezifisch gegen einen bedeutenden Krebsauslöser wirken, der die Bevölkerung weiter Landstriche Asiens bedroht. Deshalb können die Studienergebnisse nicht auf andere Teile der Welt, auf andere Krebsarten oder Krebsauslöser übertragen werden (153, 152).
Trotz der eher mageren Erkenntnislage nach Jahrzehnten der Krebs-Epidemiologie zeichnen sich inzwischen neue Perspektiven ab. Ihr gemeinsames Merkmal ist, dass nicht einzelne Nährstoffe (Vitamin C) oder Lebensmittelgruppen nach optischen Kriterien (rotes Fleisch, dunkelgrüne Gemüse) betrachtet werden. Vielmehr wird berücksichtigt, wie Lebensmittel zubereitet und gewürzt werden. Auf der anderen Seite findet nicht nur das Essen Beachtung, sondern auch die Darmflora, das Immunsystem, die Hormone, die körperliche Bewegung und das Tageslicht.
Das "rote Fleisch" steht unter anderem deswegen auf dem Index der Krebsforscher, weil bei seiner Zubereitung viel heterocyclische Amine (HCA) entstehen. Mit ihnen ließen sich im Tierversuch Darmtumoren auslösen.
Also empfiehlt man den Verbrauchern, zur Verringerung ihres Darmkrebsrisikos entweder weniger Fleisch zu essen oder "rotes" durch "weißes" Fleisch oder gar Wild zu ersetzen (150). Diese Empfehlung ist absurd, denn für Wildfleisch liegen überhaupt keine Untersuchungen vor, und in Geflügelfleisch entstehen ebenfalls HCA (22). In den USA hat der Geflügelfleisch-Boom bereits dazu geführt, dass es dem Rindfleisch als HCA-Quelle kaum noch nachsteht (22).
Noch in keiner Studie zu Fleisch und Darmkrebs wurde der Gehalt an HCA gemessen, sondern nur aufgrund des Bräunungsgrades geschätzt. Anhand der Aussage, man bevorzuge sein Steak "durch" oder "medium", lässt sich jedoch nicht dessen Gehalt an Cancerogenen bestimmen.
Wieviel HCA entstehen, hängt z.B. davon ab, ob das Fleisch auf dem Grill oder in der Pfanne gegart wird und ob es vorher mariniert wurde (120, 130). Gerade das Marinieren erwies sich bei gegrilltem Hühnchen als äußerst vorteilhaft: Eine übliche Marinade aus braunem Zucker, Olivenöl, Cider-Essig, Knoblauch, Senf, Zitronensaft und Salz verringerte die Entstehung einzelner HCA um bis zu 99% (120). Selbst nach 40minütigem Grillen, wenn das Fleisch übergart und fast ungenießbar war, enthielt die marinierte Hähnchenbrust nur ein Zehntel der HCA-Menge, die in der unmarinierten Variante entstand. Für diesen Effekt musste die Marinade nicht einmal lange einziehen: Selbst wenn das Fleisch nur kurz eingetaucht und danach sofort gegrillt wurde, entstanden weniger Cancerogene.
Auch andere Versuche weisen auf einen Schutzeffekt von Gewürzen hin: So entstehen vor allem beim Grillen und Räuchern PAK (polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe), deren bekanntester Vertreter das Benzpyren ist.
Die Gewohnheit, Grillwürstchen und geräucherten Presssack mit einer Portion Senf zu verzehren, dürfte die potentielle Gefahr bannen: Schon mit geringen Mengen Senfmehl ließ sich die Mutagenität von Benzpyren in vitro drastisch verringern (112). Gegen Nitrosamine, die z.B. beim Braten von Speck entstehen, halfen Diallylsulfide aus Zwiebeln und Knoblauch (138).
Und auch gegen HCA ist ein Kraut gewachsen: So wirkten die Flavonoide typischer Fleischgewürze wie Thymian, Salbei, Oregano und Minze (britische Minzsoße) in vitro spezifisch gegen ein bestimmtes HCA und zwar in solch geringen Mengen, wie sie in üblichen Gewürzportionen enthalten sind (71, 121).
Diese Studienergebnisse zeigen, dass die Menschen bereits seit vielen Generationen wirksamen Krebsschutz betreiben. Die klassischen Zubereitungsverfahren und übliche Verzehrgewohnheiten sind offenbar genau dazu da, um Krebs vorzubeugen.
Wären Vitamine und Ballaststoffe so gesund, wie es die Werbung verspricht, würde ein Saltimbocca romana nicht mit Salbei, sondern mit Weizenkleie zubereitet, und wir würden unser Grillwürstchen in Multivitaminsaft statt in Senf tauchen.
Verarbeitung und Zubereitung haben also einen deutlichen Einfluss auf die physiologischen Wirkungen der Lebensmittel. Dies reicht aber noch nicht aus, um die gesundheitlich Bedeutung dessen, was der Mensch isst, erklären zu können. Entscheidend ist auch, welchen Einfluss das Verspeiste auf die Darmflora hat, ob es für die mit uns in Symbiose lebenden Bakterien "bekömmlich" und nützlich ist. Das Zusammenspiel zwischen Krebs, Ernährung und Darmflora ist bislang sträflich vernachlässigt worden.
Im menschlichen Darm leben 400 - 500 verschiedene Bakterienarten, die zusammen die unvorstellbar große Zahl von 10 - 100 Milliarden Keime pro Gramm Darminhalt ausmachen. Dazu kommen noch einmal 10 - 100 Millionen Bakterien, die mit jedem Gramm Schleimhaut verwachsen sind. Damit übersteigt die Anzahl der Darmbewohner die Zahl der Körperzellen eines Menschen um das Zehnfache (7).
Die Besiedelung des Verdauungstraktes beginnt mit der Geburt und ist etwa mit zwei Jahren abgeschlossen. Die dann vorhandene Erwachsenenflora erwies sich als außerordentlich stabil: Es ist so gut wie unmöglich, einen neuen Keim einzuschleusen (Kolonisationsresistenz), weil die bereits ansässige Flora für ein chemisches Millieu sorgt, das die Ansiedlung neuer "Mitbewohner" verhindert. Lediglich nach der Einnahme von Antibiotika kann es zu einer langfristigen Veränderung der Darmflora kommen (78, 88, 89, 149).
Ausgehend von Burkitts Hypothese, dass Ballaststoffe das Krebsrisiko senken (21), wurde jahrelang nach Zusammenhängen vor allem zwischen Darmkrebs, aber auch Brust- und Prostatakrebs, und der Zufuhr an pflanzlichen Faserstoffen gesucht. Doch erst die Erforschung der Phytoöstrogene verspricht eine zufriedenstellende Erklärung (EU.L.E.N-SPIEGEL 1998/H.1/S.1-10).
Die wichtigsten Phytoöstrogene sind Lignane und Isoflavonoide. Leinsaat und die Aleuronschicht des Roggens enthalten am meisten Lignane, gefolgt von einigen Gemüsen, Früchten, Tee und Kaffee.
Hülsenfrüchte, vor allem Sojabohnen, sind reich an Isoflavonoiden wie Genistein und Daidzein (2, 93). Phytoöstrogene haben vielfältige Aufgaben. Die Pflanzen nutzen ihre hormonellen Wirkungen sogar, um in den Stoffwechsel ihrer Fraßfeinde einzugreifen und deren Fruchtbarkeit herabzusetzen. Meist schützen sie sich damit aber vor Krankheitserregern, oder sie benutzen sie, um Symbionten wie Knöllchenbakterien zu erkennen und anzusiedeln. Im menschlichen Körper werden die Phytoöstrogene von der Darmflora zu neuen Verbindungen verstoffwechselt. Aus Genistein und Daidzein entsteht Equol, aus den Lignanen Enterolacton (1, 2).
Beide Verbindungen greifen in den Haushalt unserer Sexualhormone ein, und so wie es aussieht, auch zu unserem Vorteil: Sie stimulieren die Bildung von SHBG, dem Sexualhormon-bindenden Globulin (1). Es bindet die im Blut zirkulierenden körpereigenen Sexualhormone und macht sie dadurch unwirksam. Da die meisten Brust- und Prostatakrebszellen, aber auch manche Darmtumoren, durch Sexualhormone zu weiterem Wachstum angeregt werden, bremst ein hoher SHBG-Spiegel die Krebsentstehung (2).
Beispielsweise erkranken Frauen, die viel Equol und Enterolacton ausscheiden, seltener an Brustkrebs (67). Interessanterweise sind die unveränderten Ausgangssubstanzen aus der Nahrung unwirksam. Demnach leistet die mikrobielle Verstoffwechselung, sei es durch Fermentation bei der Herstellung von Lebensmitteln oder durch die Darmflora den entscheidenden Beitrag zur Prävention. So ließen sich auch die unterschiedlichen Resultate zahlreicher Studien eher auf das Stillen und einen überlegten Einsatz von Antibiotika im Kindesalter zurückführen.
Sowohl eine "Verwestlichung" - also das Leben in einer Wohlstandsgesellschaft - als auch die globale "Urbanisierung" - das Leben in städtischen Ballungsräumen - führt dazu, dass sich das Krankheitsspektrum der Menschen verändert: Parasitosen, Infektionserkrankungen und Magenkrebs nehmen ab, dafür erkranken mehr Menschen an Diabetes, Herzinfarkt, Bluthochdruck, Schlaganfall, Darm- und Brustkrebs.
Diese Krankheiten korrelieren so auffällig mit dem wirtschaftlichen Wohlstand und mit einem urbanen Leben, dass sie als "Zivilisationskrankheiten" bezeichnet und gemeinhin auf die sogenannte "western diet" zurückgeführt werden, eine fett-, zucker- und alkoholreiche Ernährung, die wenig Kohlenhydrate, Ballaststoffe, Gemüse, Obst und Vollkornprodukte enthält. Ernährungsfaktoren alleine haben ihr Auftreten aber nicht erklären können. Zum "western lifestyle" gehören neben einem Überfluss an Nahrung eine geringe körperliche Anstrengung und ein Mangel an Tageslicht.
Vieles spricht dafür, dass diese Faktoren gemeinsam zu einer Stoffwechselsituation führen, die bei genetisch Disponierten Zivilisationsleiden fördert. Inzwischen ist auch klar, wie diese Stoffwechselsituation aussieht: Dreh- und Angelpunkt ist der in Überflussgesellschaften häufige erhöhte Insulinspiegel.
Dass ein erhöhter Insulinspiegel (Hyperinsulinämie) das Risiko für Übergewicht und Diabetes erhöht, ist schon lange bekannt. Seit kurzem besteht nun der berechtigte Verdacht, dass zu viel Insulin auch Darm- und Brustkrebs fördert (16, 50, 69). Insulin fungiert als Wachstumsfaktor.
Da viele Krebszellen in der Lage sind, deutlich mehr Insulinrezeptoren auszubilden als das gesunde Gewebe, sind sie bei hohen Insulinspiegeln enorm im Vorteil (50, 79, 109).
Da die Hyperinsulinämie-Darmkrebs-Hypothese erst 1994 vorgeschlagen wurde, muss sie nun noch in epidemiologischen Studien überprüft werden. Allerdings lassen sich mit ihr schon heute einige Ungereimtheiten der bereits vorliegenden Darmkrebsstudien erklären (18, 50):
Auch für einen Zusammenhang zwischen Hyperinsulinämie und Brustkrebs gibt es ernstzunehmende Hinweise:
Dass Hyperinsulinämie und Übergewicht bei einer "western diet" so häufig sind, kann als Anpassung des Organismus auf den Überfluss verstanden werden: Mit steigender Fettzufuhr muss immer mehr überschüssige Energie deponiert werden, weil die Verstoffwechselung der Fette (Fettoxidation) nicht schritthalten kann.
Um eine unendliche Gewichtszunahme zu verhindern, senkt der Körper die Insulinempfindlichkeit. Infolgedessen steigt die Fettoxidation, und die Gewichtszunahme stagniert (69). Das würde bedeuten, dass Hyperinsulinämie und Insulinresistenz bei genetisch Disponierten der Preis für das Leben im Überfluss sind.
Trifft die Hyperinsulinämie-Krebs-Hypothese zu, bekommt die Verhütung eines hohen Insulinspiegels oberste Priorität, um Darm- und Brustkrebs zu vermeiden. Üblicherweise werden hierzu kohlenhydratreiche, fettarme Kostpläne und Abnehm-Diäten empfohlen. Genau diese Maßnahmen haben jedoch versagt: Eine fettarme, kohlenhydratreiche Diät verstärkt bei Menschen mit gestörtem Zuckerstoffwechsel die Hyperinsulinämie noch und erhöht die Blutfette (42).
Eine dauerhafte Gewichtsabnahme ist in den meisten Fällen unmöglich, die nach Diäten üblichen Gewichtsschwankungen verringern die Lebenserwartung und erhöhen z.B. das Risiko, an Diabetes zu erkranken (151). Es muss also nach anderen Möglichkeiten der Vorbeugung gesucht werden.
Körperlich aktive Menschen verwerten Glucose in der Regel gut, sie zeigen eine hohe Insulinempfindlichkeit und niedrige Plasmainsulinwerte (151). Körperliche Betätigung bietet daher einen vielversprechenden Ansatz zur Prophylaxe von Zivilisationsleiden, inklusive Darm- und Brustkrebs.
Sport und körperliche Anstrengung wirken sich nicht nur positiv auf die Fitness oder den Glucose- und Insulinstoffwechsel aus, sondern auch auf die Psyche: Stress wird abgebaut, und die Stimmung hellt sich auf. Darüber hinaus erhöht körperliche Aktivität die Lebenserwartung - und zwar unabhängig vom Körpergewicht (104, 105, 151). Um länger oder gesünder zu leben, ist es also nicht notwendig, abzunehmen. Es genügt demnach, aktiver zu werden.
Biologisch gesehen ist das auch sinnvoll: Körperliche Anstrengung hat die Evolution des Menschen begleitet. Sie scheint ein physiologisches Stimulans zu sein, das für einen reibungslosen Stoffwechsel zumindest hilfreich, wenn nicht gar notwendig ist. Der stimmungsaufhellende Effekt sorgt dafür, dass mit körperlicher Bewegung auch eine physiologische Belohnung in Form von Wohlbefinden verknüpft ist.
Die gute Laune sorgt normalerweise dafür, dass sich ein Lebewesen bewegt (und in der Regel nicht dick wird). Tierversuche ergaben, dass Energiezufuhr und Energieverbrauch normalerweise genau aufeinander abgestimmt sind, egal, welchen körperlichen Belastungen die Tiere ausgesetzt sind. Sobald man ihnen jedoch die Möglichkeit nimmt, sich ausreichend zu bewegen, beginnen sie, sich zu überfressen und werden fett (92). Bewegungsmangel wird vom Körper also nicht einfach so hingenommen, sondern durch Essen kompensiert. Hier mit Ernährungstips vorbeugen zu wollen, ist sicher der falsche Weg.
Außer an Bewegung fehlt es vielen Menschen in Überflussgesellschaften an Licht. Und auch dieser Aspekt verdient in der Krebsprophylaxe mehr Beachtung. Beim Thema Sonnenlicht und Krebs drängt sich unwillkürlich der Gedanke an zu viel Sonne und Hautkrebs auf.
Dort, tief im Inneren des Gehirns, stimuliert es die Synthese von Serotonin und dessen Umbau zu Melatonin. Es dient auf diesem Weg als Taktgeber für die inneren Uhren, die alle Körperfunktionen an die Tageszeit anpassen. Das Licht "taktet" auch die Hirnanhangdrüse (Hypophyse), die wiederum unseren gesamten Hormonhaushalt steuert. Tageslicht hebt die Stimmung, es senkt auch den Appetit und mindert die Diabetes- und Kariesneigung. (34, 95, 114)
Die positiven Auswirkungen des Tageslichts sind in der Krebsforschung bislang vernachlässigt worden. Erst Mitte der 80er Jahren fiel amerikanischen Forschern auf, dass dort, wo häufiger und länger die Sonne scheint, weniger Menschen an Darmkrebs leiden (44). So erkranken z.B. im sonnigen New Mexico knapp 7 von 100.000 Einwohnern, während es im nördlichen New York gut 17 sind. Gleiches gilt für Brustkrebs (45, 56). Problematisch ist, dass diese Wetterdaten keine Auskunft darüber geben, ob die Erkrankten tatsächlich "unterbelichtet" waren. Denn wie viel Sonne ein Mensch abbekommt, hängt nicht nur vom Breitengrad, sondern auch von seinen Arbeits- und Lebensbedingungen ab und von seiner Kleidung.
Eine weitere Funktion des Sonnenlichts ist die Bildung von Vitamin D in der Haut, die durch die UV-B-Strahlen angeregt wird. Das Hormon "Vitamin D" reguliert nicht nur den Calciumhaushalt, sondern ist für ein funktionierendes Immunsystem und ein geregeltes Zellwachstum unentbehrlich (109). Außerdem erhöht es die Insulinempfindlichkeit und wirkt so hohen Blutzucker- und Insulinspiegeln entgegen (16).
Aufgrund dieser Eigenschaften kommt es als Schutzfaktor gegen Krebs in Frage. Trotz der augenfälligen Zusammenhänge zwischen der Versorgung mit Vitamin D und dem Tageslicht, kam offenbar noch niemand auf die Idee, das Licht als wichtigsten Garanten für genügend Vitamin D zu untersuchen.
Die epidemiologischen Studien beschränken sich alle auf die Vitamin-D-Zufuhr über Lebensmittel und Vitaminpillen, obwohl die Ernährung nur eine untergeordnete Rolle bei der Versorgung spielt - von den fischessenden Eskimos im lichtarmen Norden einmal abgesehen. Die vorliegenden Studien lassen daher nur eine vorläufige Bewertung zu, sie sprechen jedoch tendenziell für einen Schutzeffekt von Vitamin D (5, 43, 91, 107, 116, 150).
Aufenthalte im Freien sind die sicherste und wirksamste Methode, die Versorgung mit Vitamin D zu gewährleisten - ohne die Gefahr einer Überdosierung. Darüber hinaus kommt der Mensch auf diesem Weg in den Genuss aller gesundheitsförderlicher Wirkungen des Sonnenlichts, wie z.B. weniger Winterdepressionen, bessere Stimmung, vermindertem Süßhunger und einen optimierten Hormonhaushalt (114). Eine Gesundheitspolitik, die einseitig vor Sonnenbestrahlung und fettreichen, aber Vitamin-D-haltigen Lebensmitteln warnt, erschwert die Prophylaxe hoher Insulinspiegel und wahrscheinlich auch die Verhütung bestimmter Krebsformen.
Auf der Suche nach Maßnahmen zur Krebsprävention wird die Ernährung intensiv erforscht. Viele bisher durchgeführte Studien unterliegen nicht nur erheblichen methodischen Mängeln, sie sind schon von ihrer Idee her ungeeignet: Sie gehen davon aus, daß einzelne Parameter, wie etwa der Fettverzehr, einen fest umrissenen Nutzen oder Schaden haben, der sich durch eine Ernährungsumstellung vorteilhaft verändern lässt. Bei dieser Sichtweise bleiben elementare Eigenschaften von Menschen, Lebensmitteln und der Krankheit Krebs unberücksichtigt:
Mit dem "western lifestyle" steigt nicht nur die Lebenserwartung, es kommt auch zu charakteristischen Veränderungen im Krankheitsspektrum einer Gesellschaft. Dieser Lebensstil - viel essen, wenig bewegen, kaum Tageslicht - führt offensichtlich bei dem Teil der Bevölkerung, der genetisch vorbelastet ist, zu einer Stoffwechselsituation, die Krebs begünstigt. Vor allem die Bedeutung des in Industrienationen verbreiteten Mangels an Tageslicht sollte dringend erforscht werden.
Detaillierte Ernährungsempfehlungen zur Krebsprophylaxe können erst dann gegeben werden, wenn epidemiologische oder klinische Studien gezeigt haben, dass der versprochene gesundheitliche Nutzen auch tatsächlich eintritt. Die bisherigen Ergebnisse sind mager: Raucher sollten vor ß-Carotin-Präparaten gewarnt werden und Menschen, die erblich bedingt zu hohen Eisenspeichern neigen, muss dringend von der Einnahme von Vitamin C abgeraten werden. Letztere profitieren möglicherweise auch von einer betont pflanzlichen Ernährung, weil der Körper das darin enthaltene Eisen schlechter verwerten kann.
Das Beispiel der Phytoöstrogene zeigt, dass es darauf ankommt, wie die Lebensmittel verarbeitet werden und wie sie die Darmflora verstoffwechselt. Da manche ballaststoffreichen Lebensmittel erst nach einer Fermentation die tatsächlichen Wirksubstanzen oder jene Vorstufen enthalten, die es der Darmflora ermöglichen, die eigentlichen Schutzstoffe zu erzeugen, tauchen gelegentlich auch Korrelationen mit Ballaststoffen, Obst, Gemüse und Getreide auf.
Solange gesicherte Erkenntnisse fehlen, sollte die Bevölkerung von allgemeinen Ratschlägen wie "wenig Fett, wenig Salz, wenig Fleisch" besser verschont werden. Zumal sich abzeichnet, dass andere Faktoren wie Bewegung und Licht bessere Ansatzpunkte bieten. Die meisten Ernährungsregeln haben keine wissenschaftlich begründete Basis. Sie bedeuten nicht nur eine unnötige Einschränkung der Lebensqualität und die Vernichtung volkswirtschaftlichen Kapitals, sie können den Menschen auch schaden. Und sei es "nur", dass die Krebsangst steigt, weil ein "verbotenes" oder "ungesundes" Lebensmittel gern gegessen wird.
Quelle: EU.L.E.n-Spiegel Nr.9/98